Während es oft der Alltag ist, der uns vom Lesen abhält, macht er – wenn er gar so großen Raum einnimmt – eine horizonterweiternde Lektüre umso dringlicher. Für diese Situation stelle ich dir heute genau die richtige Lektüre vor: „Schreibtisch mit Aussicht“, herausgegeben von Ilka Piepgras, ein Buch, in dem Beiträge von 24 Schriftstellerinnen versammelt sind, die vom Schreiben erzählen. Ein kurzer Essay lässt sich in jede Mittagspause, Busfahrt oder halbe Stunde vor dem Schlafen einbauen und wird dich mit interessanten, anregenden Gedanken wieder in den Tag entlassen.
Worum es geht:
In „Schreibtisch mit Aussicht“ erzählen 24 Schriftstellerinnen vom Schreiben – wann sie wussten, dass sie schreiben wollen, warum sie schreiben, wie sie neue Ideen verfolgen, wie ganz konkret der Schreiballtag aussieht und was es bedeutet, als Frau Schriftstellerin zu sein. Hier finden sich Essays, Artikel und Beiträge von Autorinnen wie Nicole Krauss, Elif Shafak, Siri Hustvedt, Hilary Mantel, Elfriede Jelinek und Leїla Slimani.
Dabei setzen die Schriftstellerinnen ganz unterschiedliche Schwerpunkte, sodass man sehr verschiedene Einblicke bekommt. Zadie Smith geht dem Zusammenhang zwischen der Fiktion und dem eigenen Leben einer Schriftstellerin nach und fragt, was das Pronomen „ich“ damit zu tun hat, Olivia Sudjic schildert eine existenzielle Krise während eines Künstlerstipendiums und Eva Menasse gibt einen detaillierten Einblick in ihre Arbeitsweise beim Schreiben.
Nicht alle 24 Texte haben mich gleichermaßen angesprochen, aber das ist bei so vielen unterschiedlichen Beiträgen ja auch kaum anders möglich. Bis auf einige wenige, die mich nicht ganz so erreicht haben, war ich aber wirklich begeistert.
Das Besondere an diesem Buch:
Das Konzept dieses Buchs ist genauso spannend wie wichtig: Ilka Piepgras weist in ihrem Vorwort darauf hin, dass Bücher von Frauen nach wie vor sehr viel weniger in den Feuilletons rezensiert werden als Bücher von Männern, während gleichzeitig die meisten Rezensenten Männer sind. Es hält sich das Vorurteil, dass Frauen Bücher schreiben, die nur für Frauen interessant sind – Frauenliteratur eben. Romane von Männern gelten hingegen als allgemeingültig.
Diese festgefahrenen Muster kommen laut Piepgras daher, dass über so lange Zeit nur Bücher von Männern große Aufmerksamkeit bekommen haben und zu Klassikern erklärt wurden. Während deshalb fast jeder ein Bild vor Augen hat, wenn er an einen männlichen Schriftsteller denkt, gibt es keine so klare Vorstellung von einer Schriftstellerin. „Es fehlen Vorbilder und Ideale von Schriftstellerinnen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden“, schreibt Piepgras.
In „Schreibtisch mit Aussicht“ findest du genau das: verschiedene Antworten auf die Frage, was es heißt, eine Schriftstellerin zu sein.
Ein guter Moment für dieses Buch:
Wenn dir der Alltag ein wenig zu routiniert vor sich hin plätschert, sorgt eine Mittagspause mit „Schreibtisch mit Aussicht“ für kreative Energie – beispielsweise in Form der spannenden Fragen, die Sheila Heti in einer Email-Korrespondenz an Elena Ferrante richtet.
Wenn deine Lektüre dich zum Nachdenken bringen soll, würde ich das Buch auch empfehlen. Denn hier werden lauter Themen und Gedanken angesprochen, die nachwirken wollen. Weil einige der Schriftstellerinnen auch sehr interessante Argumente ausführen, in die man sich richtig hineindenken kann, ist das Buch zudem eine sehr befriedigende Leseerfahrung für den Kopf – nicht zuletzt auch, weil man merkt, dass hier Autorinnen schreiben, die Freude an Sprache und am Formulieren haben.
Außerdem ist „Schreibtisch mit Aussicht“ eine wunderbare Möglichkeit, die Schreibstile verschiedener Autorinnen kennenzulernen. Ich habe gleich noch mehrere Schriftstellerinnen für mich entdeckt, von denen ich jetzt unbedingt mehr lesen will.
Wann ich zu etwas anderem greifen würde:
Wenn du ein Buch suchst, das dir nicht in erster Linie Anregungen gibt, sondern in das du so richtig abtauchen kannst, würde ich an deiner Stelle eher zu einem Roman greifen. Wenn es vor allem spannend sein soll, könnte „Kleine Feuer überall“ von Celeste Ng etwas für dich sein, für emotional packende Lektüre ist „Die Mütter“ von Brit Bennett das richtige Buch, und wenn du leichte, gut gelaunte Unterhaltung suchst, ist „Der Pfau“ von Isabel Bogdan eine Überlegung wert.
Der Moment danach:
Wenn „Schreibtisch mit Aussicht“ bei dir die Lust auf interessante, kluge, unbequeme und scharfsichtige Schriftstellerinnen geweckt hat, ist mein Vorschlag für eine Anschlusslektüre „Die Ladenhüterin“ von Sayaka Murata. In diesem kurzen Roman erzählt die Autorin von einer Hauptfigur, die sich im heutigen Japan den gesellschaftlichen Konventionen durch ultimative Anpassung stellt. Ein faszinierendes Buch, das dich gleichermaßen packen, überraschen und zum Nachdenken bringen wird.
Daten zum Buch:
Titel: Schreibtisch mit Aussicht
Herausgeberin: Ilka Piepgras
Verlag: Kein & Aber
Seiten: 288
Preis: 23,00€
ISBN: 978-3-0369-5826-2
Hier findest du auf der Website des Kein & Aber Verlags mehr Infos zum Buch und eine Leseprobe.