Manchmal greift man nach einem Buch, weil man denkt, man weiß, was einen erwartet – ist das nicht einer der Gründe, weshalb Menschen Krimis lesen? – und manchmal geht das Buch dann über alles hinaus, was man sich vorgestellt hat. So ging es mir mit „Die Detektive vom Bhoot-Basar“, das ich in die Hand genommen habe, weil ich Lust auf einen Krimi mit Schauplatz in Indien hatte. Aber dieser Roman von Deepa Anappara ist viel vielschichtiger als das – er verknüpft Gesellschaftskritik mit einer Spannung, die einen aufrüttelt, weil es sich um wahre Gegebenheiten handelt. Wenn du ein besonderes Geschenk für Krimi-Fans in deinem Leben suchst, bist du hier richtig.
Worum es geht:
Der neunjährige Jai lebt mit seiner Familie im Armenviertel einer indischen Stadt, deren Namen wir nicht erfahren. Inmitten der Armut ist Jai lebenslustig, zankt sich mit seiner Schwester, streift über den Bhoot-Basar und träumt – inspiriert von Polizeisendungen im Fernsehen – davon, Dektektiv zu werden. Als ein Kind aus seiner Schulklasse verschwindet, nimmt Jai sich vor, der Sache auf die Spur zu kommen und verfolgt mit seinen beiden besten Freunden Pari und Faiz mögliche Fährten, die sie durch dunkle Ecken der Stadt und menschlicher Machenschaften führen.
Am Anfang ärgert sich Jai noch, wenn seine Freundin Pari wieder schneller auf die richtigen Fragen kommt, die Verdächtigen gestellt werden müssen und möchte sich auf jeden Fall als Detektiv und nicht als Assistent von Pari etablieren. Die Situation wird aber immer bedrückender: Mehr und mehr Kinder aus dem Viertel verschwinden, während die Polizei die Sorgen der Bewohner viel zu lange ignoriert und stattdessen ihre Verzweiflung ausnutzt. Andere suchen die Schuld bei den Muslimen unter ihnen und lassen religiöse Konflikte zwischen Hindus und Muslimen neu aufkochen, bis sie zu eskalieren drohen. Dieser wahre Kriminalfall zeichnet ein eindringliches Bild vom Leben in einem solchen Armenviertel.
Das Besondere an diesem Buch:
Was „Die Detektive vom Bhoot-Basar“ zu einem besonderen Leseerlebnis macht, ist die Rolle, die das Erzählen selbst einnimmt. Jai nimmt uns mit auf seine Streifzüge durch die Stadt und durch sein alltägliches Leben, das immer wieder vom Smog durchkreuzt und bestimmt wird. Seine Sprache ist dabei eindrücklich und originell, seine Vergleiche und Formulierungen sind keine viel genutzten Redewendungen, sondern spiegeln seine eigenen Erfahrungen. So lernt man den Erzähler über seine Art, zu erzählen, kennen und wird immer wieder daran erinnert, dass es ein Kind ist, das sich dieser gefährlichen und ernüchternden Realität jeden Tag stellt.
Mich hat dieses Buch tief bewegt. In ihrem Nachwort beschreibt die Autorin ihre frühere Arbeit als Journalistin in Indien, durch die sie Einblicke in das Leben von Kindern in Armenvierteln bekommen hat. Sie will mit diesem Roman den Kindern eine Stimme geben, die in Indien so regelmäßig verschwinden und meist namenlos und von der Presse und der Öffentlichkeit unbeachtet bleiben. „Die Detektive vom Bhoot-Basar“ öffnet den Blick auf einen Teil des Weltgeschehens, der oft still bleibt. Ich bin froh, dieses Buch gelesen zu haben.
Ein guter Moment, um das Buch selbst zu lesen:
Der Roman bietet eine wahnsinnige Spannung. Nicht nur macht man sich zunehmend Sorgen, wie Jai und seine Freunde, die man wirklich ins Herz schließt, den Entwicklungen gewachsen sein können und sie auch noch aufdecken sollen, sondern in seine Erzählung sind auch immer wieder Kapitel aus den Perspektiven der verschwundenen Kinder eingeschoben – das ist aufwühlend, oft herzzereißend und bewegend. Es ist nicht die herkömmliche Krimi-Spannung, die man hier findet, sondern eine, die tiefer geht. Deshalb würde ich nach diesem Roman greifen, wenn du bereit für ein intensives Leseerlebnis bist.
Ansonsten würde ich das Buch empfehlen, wenn du dich gerade mit schwierigen Erfahrungen wie Verlust oder Unsicherheit beschäftigen musst oder wenn dich Ungerechtigkeiten und Entwicklungen in der Gesellschaft ratlos machen. In diesem Roman geht es um genau diese Themen und er zeigt auch, wie Menschen all das bewältigen, indem sie erzählen. In „Die Detektive vom Bhoot-Basar“ werden Mythen erzählt, Geistergeschichten („Bhoot“ ist ein indisches Wort für Geist) und Erzählungen über Dschinns, die zeigen, wie man mit den schlimmsten Dingen im Erzählen einen Umgang finden kann.
Ich finde, nach dieser Lektüre hat man das Bedürfnis, etwas zu tun anstatt wegzuschauen. Für mich zeigt das mal wieder, wie sehr Bücher mitten im Leben stehen – nicht immer sind sie eine Flucht oder ein Zurückziehen aus dem aktiven Leben. Sie können einem, wie „Die Detektive vom Bhoot-Basar“, auch einen Gesellschaftsbereich eröffnen, dem man sonst vielleicht nicht so nahe kommen würde, und das Bedürfnis wecken, sich aktiver damit auseinanderzusetzen.
Und wenn du „Die Detektive vom Bhoot-Basar“ gerade nicht selbst lesen möchtest, lässt sich dieser Roman auch bestens verschenken!
Nicht nur ein Geschenk für Krimi-Fans:
- Dieses Buch ist natürlich ein ideales Geschenk für Krimi-Fans in deinem Leben: Auch wenn Krimis den Reiz haben, dass man ungefähr weiß, worauf man sich einlässt, gehört es genauso dazu, dass sie unvorhersehbar sind. Ein Krimi wird noch spannender, wenn er über das hinausgeht, was man bisher kennt und zeigt, was man aus dem wohlbekannten Genre noch herausholen kann. Somit ist „Die Detektive vom Bhoot-Basar“ ein naheliegendes, aber auch ein originelles Geschenk für Krimi-Fans.
- Auch die Bekannte, die neugierig und offen ist und eine lange Liste an Orten hat, die sie besuchen will, freut sich über diesen Roman: Bei der Lektüre bekommt sie einen Einblick in das Leben und die Konflikte des heutigen Lebens in Indien. Viele indische Ausdrücke sind sowohl im englischen Original als auch in der deutschen Übersetzung beibehalten worden, was den Schauplatz noch lebendiger macht. In der deutschen Übersetzung findet sich ein Glossar zu den Konzepten und Wörtern, die deutschen Lesern vielleicht weniger vertraut sind.
- Die Freundin, bei der du ein bisschen lächeln musst, wenn du an einen neunjährigen Erzähler denkst, wird viel Freude mit Jai und seinem Erzählstil haben!
Wann ich zu etwas anderem greifen würde:
Wenn du dich der erschütternden Qualität des Buchs gar nicht gewachsen fühlst, würde ich mir eher eine andere Lektüre suchen. „Aufruhr in Oxford“ und „Kleine Feuer überall“ sind auch spannende Leseerlebnisse und vor allem Bücher, die etwas zu sagen haben, aber sie sind weniger aufwühlend.
Ich finde zwar, dass „Die Detektive vom Bhoot-Basar“ einen nicht nur erschüttert, sondern vor allem durch die kindliche Perspektive sehr gut unterhält, dass man beim Lesen viel lernt – allerdings immer durch die Geschichte, nicht durch Moralisieren – und dass der Roman einen wirklich dazu inspiriert, der Gesellschaft wacher zu begegnen. Diese Qualitäten machen das Buch für mich sehr stark, können sich aber auch nur entfalten, wenn man die düstere Realität aushalten kann. Ist das der Fall, findet der Roman gemeinsam mit dem Leser einen Umgang damit.
Daten zum Buch:
Titel: Die Detektive vom Bhoot-Basar
Originaltitel: Djinn Patrol on the Purple Line
Autorin: Deepa Anappara
Übersetzer: Roberto de Hollanda und pociao
Verlag: Rowohlt
Seiten: 400
Preis: 24 €
ISBN: 978-3-498-00118-6
Eine Leseprobe und weitere Informationen findest du hier auf der Verlagswebsite von Rowohlt.
Hi Felicitas,
jetzt ärgere ich mich fast, dass ich einer Person in meinem Leben, von der ich weiß, dass sie gerne Krimis liest, nicht dieses Buch zum bevorstehenden Geburtstag geschenkt habe, – ich wusste ja auch bislang nichts davon. Und gerade mit Indien wäre es besonders passend gewesen. Also dann Weihnachten, selbst wenn bis dahin, wie es scheint, schon etliche neue Anregungen zu lesen gewesen sein werden. Besonders gut hat mir gefallen, dass hier das Thema und die Gefährdung des Kindseins eine so große Rolle spielen, ich kann mir gut vorstellen, dass das künftig zu einem der wichtigsten Themen werden kann. Gut, dass ich durch diese Empfehlung auf den Roman gestoßen bin, – ich werde ihn kaufen und eben nicht verschenken. Danke! LG Mathias
Hi Mathias!
Es freut mich sehr, dass dich das Buch angesprochen hat! Du hast finde ich genau das Besondere an dem Roman auf den Punkt gebracht – dass er das Kindsein in den Mittelpunkt stellt inmitten einer nüchternen Realität.
Als Weihnachtsgeschenk kann ich mir das Buch auch sehr gut vorstellen! Das ist doch super, im Juni schon eine Idee zu haben!
Ich wünsch dir schöne Lesestunden mit den Detektiven!
Liebe Grüße
Felicitas